MITTELSTADT

Mittelstadt

 

Mittel - Stadt (Erzählunq)


Schon 12.20 Uhr! Wo wohl Micha bleibt, denkt die Mutter und schaut immer wieder aus dem Fenster die Strasse hinunter.
Dann ein Gepolter und Geschimpf, den Schulsack in die Ecke schmeissend, steht er mit hochrotem Kopf in der Küchentüre.
Diese blöden Affen wissen immer alles besser, alle gehören sie auf den Mond, sollen sie da ihre dummen Sprüche den Sternen erzahlen, die hören ihnen sicher gerne zu!
Du scheinst ja bester Laune zu sein, Micha!
Was los war, dir erzahle ich es auch nicht, du bist ja auch so eine; zwei Kopf grösser als ich, und du weisst es sicher auch besser, wie der Lehrer, der Abwart und der Briefträger!
Die Mutter kniet sich vor Micha hin, jetzt stimmt das mit dem Grössersein aber nicht mehr.
Ich habe den Lehrer gefragt, warum der Pausenhof nicht wie eine Schüssel sei, damit man nicht immer den Ball unten auf der Strasse holen müsse.
Der Lehrer hat gesagt, das ginge doch nicht, der Platz müsse eben sein, weil sonst das Wasser zusammenlaufe, wenn es regne, und dass es viel zu teuer sei, einen solchen Platz zu bauen.
Ich denke aber, wir brauchten dann gar kein Schwimmbad mehr, und im Schulzimmer könnten wir doch die Hosenbeine raufziehen und schwimmend in die Pause gehen.
Du bist ein dummer Schwätzer und verstehst es nicht besser, warte nur, bis du älter bist.
Ich habe dann das Gleiche den Abwart gefragt, und der zeigte nur an die Stirne, fluchte und sagte, ich spinne ja, und ob ich solchen Unsinn in der Schule lernen würde.
Auf dem Heimweg begegnete ich dem Pöstler, und der hat mich gefragt, warum ich so ein Gesicht schneiden würde?
Ich habe ihm geantwortet: Weil die Post nicht von Tauben gebracht wird, und weil die Briefe nicht fliegen können. -
Ach, die Grossen verstehen unsere kleinen Wünsche und Bitten einfach nicht!
Sind denn die nie klein gewesen?“
Klein gewesen sind wir alle, doch die meisten vergessen es eben, d. h. sie geben sich gar keine Mühe, sich ihrer eigenen Kindheit zu erinnern.
Die einzige Ausnahme ist, wenn die Grossen mit ihren Jugendstreichen prahlen.
Ja, und wenn ich so einen Streich spiele, bekomme ich den Hintern voll von diesen komischen Erwachsenen“, sinniert Micha.
Mir scheint, die haben nicht begriffen, dass wir Kinder auch ein Recht haben zu leben und unsere Wünsche und Träume eben lebendig in uns sind.
Ja, sagt die Mutter, du hast Recht, wir leben in einer Welt der Erwachsenen, und die Kinder haben fast keinen Platz mehr.
Wir hier draussen haben es noch gut, aber die Kinder in der Stadt sind schlimm dran. Die können, ja müssen ihre Wünsche nur noch träumen, denn zum Spielen ist kein Platz mehr.
Ich weiss wirklich nicht, woher diese Grossen ihr Recht nehmen, solch eine kinderfeindliche Umwelt zu gestalten, seufzt die Mutter weiter.
Ich weiss etwas, wir bauen eine Kinderstadt, wo nur Kinder Zutritt haben!
Aber dann muss ich ja auch draussen bleiben, Micha!
Nein, wir bauen eben eine Mittelstadt, wo gross und klein zusammenleben können! Wie stellst du dir das vor?
Nicht ich stelle mir diese Stadt vor, sondern du und ich planen, bauen und bewohnen diese Stadt.
Wir erzählen uns gegenseitig unsere Wünsche, Vorstellungen und Träume.
Dann beginne, Micha!...
Ein grosses, rundes Haus wollen wir bauen, mit einem riesigen Innenhof, wie ein Ring soll es aussehen.
In der Mitte ein hoher Turm mit einer Treppe aussenherum.
Zuoberst im Turm wohnen die Tauben für die Post.
In der Mitte nisten die Vögel, die für uns Musik machen und zuunterst lebt der Hahn, der bestimmt, wann die Musik beginnen soll und wann wieder Ruhe ist.
Der Turm steht im Wasser, in dem wir baden können, aber auch Fische und Enten schwimmen umher, und das Wasser ist schön warm.
Am Rande dieses Wassers hat es eine Höhle.
Auch einen Wasserfall, weisst du, nur so hoch, er zeigt an die Küchendecke.
Grosse Blumen stehen da, wo wir Verstecken spielen können, ein kleines Boot haben wir auch.
Auf dem Wasser blühen das ganze Jahr Seerosen und der Turm ist mit Efeu überwachsen, auch die Schlingpflanzen mit den blauen und gelben Blumen wachsen rings um die Fenster, und über der Türe blühen gelbe und rote Rosen.
In den Nischen, die wir im Turm einbauen, brüten Schwalben und Stare.
Unter dem Turmdach leben Eulen und Fledermäuse.
Zuoberst im Turm ist ein kleines Zimmer mit vielen Fenstern.
Da sitzen wir abends im Kreis und können den Sonnenuntergang erleben, da beten wir auch das Sonnengebet.
Wenn es gewittert, sitzen wir auch da oben und schauen dem schauerlichen Farbenspiel zu, du wirst mir dann sicher Geschichten erzählen!
Schön, sagt die Mutter, und ihre Augen glänzen vor Vergnügen bei diesen Vorstellungen.
Wo werden wir wohnen?
Im Ringhaus.
Da hat es Wohnungen für die Grossen und solche für die Kleinen, in die die Grossen nur hinein können, wenn sie auf allen Vieren gehen.
Das ganze Ringhaus ist auch mit Reben, Efeu und vielen Rosen bewachsen und noch so vieles andere mehr.
Vor dem Haus, gegen das Wasser hin, pflanzen wir die Blumen, die du so gerne magst, auch Gemüse und die feine Pfefferminze für den Tee. -
In einem Teil des Rundhauses leben Pferde, Kühe, Hasen und viele andere Tiere, die wir aber nicht töten dürfen.
Um das Rundhaus ist ein grosser Wald, den niemand durchqueren kann, der nicht den Schlüssel für dieses Haus besitzt.
Wer bekommt denn den Schlüssel, Micha?
Nur die, die lieb sind mit den Kindern.
Auch die, die Kasperletheater oder sonst Theater für die Kinder spielen.
Auch ein Zirkus mit Tieren und lustigen Clowns. -
Wir werden Blumenkränze flechten, und jeder, der von uns Kindern einen solchen Blumenschmuck auf die Stirn bekommt, hat auch den Schlüssel für den Wald. - Elektrischen Strom haben wir keinen, auch kein Telefon.
Die Post holen ja die Tauben.
Wie soll ich denn kochen, Micha?
Im Wald hat es Holz genug, und in der Küche eine grosse Feuerstelle mit einem schönen Kupferkessel.
Wasser holen wir am Teich.
Dieses Wasser ist sehr sauber, weil kein Auto um den Teich fahren kann und keine Flugzeuge über den Wald und das Haus fliegen.
Flugzeuge müssen einen Umweg fliegen, weil seine Insassen ja keinen Schlüssel besitzen. -
Die Elfen, die im Garten wohnen, werden uns die Sprache der Blumen und Tiere lehren, sie werden uns Schule geben.
Die blöde Schule, die wir hier haben, brauchen wir nicht mehr, die Lehrer können uns nichts mehr beibringen, wir gehen in der Natur zur Schule!
Die alte Eule bringt uns sicher das bei, was wir wissen wollen.
Einen kleinen Durchgang lassen wir offen, damit die Tiere des Waldes zu uns hineinkommen können, wenn wir ein Fest feiern, oder wenn die dummen Grossen zur Jagd blasen.
Über allem steht eine Wolkenglocke, die uns für die andern Menschen in der Welt unsichtbar macht.
Es ist so schön, wie du, lieber Micha, dies alles siehst, ich habe fast nichts zu verbessern.
Doch eines würde mich interessieren, nämlich wie du dir das vorstellst, warum sollen wir uns so von der Welt zurückziehen?
Das ist ganz einfach, wenn die Menschen sich gegenseitig getötet haben, alle Strassen und Städte kaputt sind, werden wir hinausgehen können und dieses Ringhaus um die ganze Erde bauen.
Es gäbe dann eine Erde mit kleinen und grossen Kindern, und alle hätten einen Blumenkranz auf der Stirne, und alle würden sich kennen und hätten sich lieb.
Ja, Micha, Iächelte die Mutter, das wäre schön und gut, doch bauen wir nicht besser dieses Mittelringhaus hier?
Sie zeigt auf ihr Herz.
So werden wir jetzt schon diesen Blumenkranz auf unserer Stirne tragen, und die Welt muss nicht zuerst zerstört werden, sondern es darf langsam an diesem Ringhaus des Friedens und der Liebe gebaut werden.
Komm Micha, wir essen jetzt und träumen danach weiter, es ist noch Zeit.

LIEBE SEI EIN FLIESSEN UND STRÖMEN,
UM ALL DIE KINDER ZU VERSÖHNEN.
LASST UNS DAS LACHEN UND DIE FREUDE
AUSLEBEN HIER UND HEUTE!!!

 

November 1983 Andreas